Zeitgenössische Romantik, ein weiter Genrebegriff, der sowohl alles als auch nichts heißen kann. Leidenschaftliche Szenen zwischen zwei oder drei alternativ-hippen Millenials? Oder berührende Geschichten über Freundschaft und Liebe in Zeiten von Tinder und Ghosting? „Das Mädchen, das in der Metro las“ behandelt keines dieser Themen, spinnt keine prekäre Liebesgeschichte zwischen Juliette und einem Partner, sondern zwischen dem Mädchen in der Metro und den Büchern. Juliette sitzt in der Metro und beobachtet. Sie beobachtet den Mann mit dem grünen Hut, der jeden Tag einige Seiten aus seiner Enzyklopädie über Käfer liest, die Dame mit dem Kochbuch, die junge Frau mit dem Liebesroman. Dieses Beobachten scheint das interessanteste an ihrem durchschnittlichen Leben, bis sie eines Tages einige Stationen früher aussteigt.
Als Juliette sich dazu entschlossen hatte, auf die Stellenanzeige des kleinen Maklerbüros zu antworten, war dies noch mit einer bestimmten Vision geschehen. Menschen kennenzulernen und ihnen genau das behagliche Nest zu vermitteln, das sie zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben brauchen. Ein Nest „wo jene Träume sich entfalten konnten, wo Ängstliche wieder Vertrauen fassen, Deprimierte das Leben wieder in die Arme schließen würden, wo Kinder im Schutz vor den lebensbedohlichen und entwurzelnden Stürmen des Lebens aufwachsen“. Mit dem tristen Arbeitsalltag und den lieblosen Wohungsbesichtigungen hat dies alles wenig zu tun. So bleibt Juliette nur das Pendeln über 18 Pariser Stationen zwischen ihrer Singlewohnung und der Arbeit. Und das Beobachten der verschiedenen anonymen Fremden in der Metro, deren Vorliebe zu bestimmter Literatur sich als Abbild ihrer Persönlichkeiten spinnen lässt, zumindest in Gedanken. Bis Juliette eines tristen Februarmorgens früher aus dem Zug springt und den Büchern bis zu Soliman und seiner Tochter Zaïde folgt.
Wenn Bücher das Leben verändern
„Bücher ohne Grenzen“ steht auf dem emaillierten Türschild geschrieben, das verrostete Metalltor wird von einem Buch offengehalten. Auch im Haus begegnet Juliette Buchrücken an Buchrücken. Gestapelte Bücher, Bücher in Kisten, Bücher in Regalen, ganz wie bei ihr zuhause. Inmitten dieses staubigen Paradieses trifft sie Soliman, den verschrobenen, überaus sympathischen Hausbesitzer und neben dieser neuen Bekanntschaft auch alte Freunde, wie Zolas „Die Beute“, Tolstois „Krieg und Frieden“, Chrétien des Troyes „Der Karrenritter“ oder Thoreaus „Walden“. Ob sie ihr Glück als einer seiner Kuriere finden wolle, fragt der Mann mit den dunklen Augen. Nicht etwa ein Fahrradkurier, der Zeitungen oder Lebensmittel zum Käufer bringt, sondern ein ganz besonderer Kurier. Sie erhalten Bücher aus Solimans umfangreicher Sammlung und geben sie weiter, suchen einen Leser oder eine Leserin aus und beobachten den Rezipienten, bis der Kurier eine Vorstellung hat, welches exakte Buch der andere braucht. Juliette ist sich unsicher. Hat sie das nötige Feingefühl, um den Menschen anzusehen, welches Buch ihr Leben verändern kann und nach welchem sie sich sehnen, ohne es selbst zu wissen?
Literarische Liebeserklärung
Christine Féret-Fleurys Roman wartet nicht mit einer abenteuerlich verstrickten Handlung oder spannenden Plot-Twists auf, sondern erzählt eher leise, in kleinem Rahmen von der Macht der Bücher. Das Buch wird für Juliette und die Empfänger zu ebenjenem Nest, in dem die Suchenden die bitter nötige Geborgenheit finden, oder Rastlose den Anstoß, den sie brauchen, um ihr Leben umzukrempeln. Detaillierte, emotional gefärbte Beschreibungen und liebevolle Details wechseln sich ab mit einer kaum zuzuordnenden Distanz zur Erzählfigur. Wer einen Nachmittag investieren will, um über die Kraft eines Buches zu reflektieren, ist mit der kompakten, novellenartigen Geschichte gut beraten.